An vielen Tischen Europas zu Abend essen

Nicole Broer entdeckt Europa immer wieder neu - mit ihren Schülern und für diese
Lesezeit: 6 min

Text: Nicole Broer

«Je suis Nicole Broer, professeur dans un lycée professionnel à Paderborn, Allemagne … My name is Nicole Broer and I am in charge of Erasmus+ projects at my school …» Oder soll ich lieber sagen: «Ich heiße Nicole Broer, bin überzeugte Europäerin und liebe Erasmus»? Welche Sprache auch immer ich spreche, sie zeigt mir jedes Mal, in welcher unglaublichen Vielfalt wir in Europa leben und welche spannenden kulturellen Besonderheiten es zu entdecken gibt. Aber das Wichtigste ist, sie lassen mich jedes Mal wie eine Europäerin fühlen, unabhängig davon, wo ich mich gerade befinde.

Porträtfoto Nicole Broer
© privat

Nicole Broer ist Europakoordinatorin des Ludwig-Erhard-Berufskollegs in Paderborn. Sie führt seit vielen Jahren Erasmus+ und eTwinning-Projekte durch.

Foto: Blick von den Bergen hinunter auf Monaco
© Boris Stroujko/AdobeStock

Nicole Broers Auslandserfahrungen begannen als Au-pair in Monaco.

Wie alles begann

Angefangen hat das Ganze während meines Auslandsaufenthalts in Monaco, als ich mich nach dem Abitur bei einer Organisation für eine Au-pair-Stelle beworben hatte. Ich hatte mich für ein französischsprachiges Land entschieden, weil ich die Sprache gerne besser sprechen wollte und Englisch schon einigermaßen gut beherrschte. Außerdem wollte ich selbstständig werden, mich von zu Hause lösen und die Welt entdecken, war neugierig auf andere Kulturen.

Nach meiner Zeit in Monaco musste ich mich entscheiden, welche berufliche Richtung ich einschlagen wollte. Das fiel mir sehr schwer. Über eines war ich mir allerdings sicher: Ich wollte andere Sprachen sprechen, mich mit Jugendlichen in ganz Europa austauschen, wollte neue Länder und Kulturen kennenlernen. Aber ich fragte mich damals, welch berufliches Betätigungsfeld es wohl für solche Tätigkeiten gäbe. 

Anzahl der Studierenden nach Gastländern

Angaben in Teilnehmenden, N = 18.999
Nur Teilnehmende in Programmländern mit > 10 Teilnehmenden.

Zahl der teilnehmenden Studierenden nach Gastländern N=18.999. Es waren in Spanien 2.750, in Frankreich knapp 2.500, in VK 2.400, in Schweden gut 1.500, in Italien 1.250 in Norwegen 1.100 und in Finnland mehr als 1.000.
Quelle: Vorabpräsenation Erasmus+ Nachbefragung […], NA DAAD 2024 (vorläufige Ergebnisse), Folie 4 

Prozentualer Anteil der Gastländer für Auslandspraktika (SMT)

Angaben in Prozent, N = 3.245
Nur Teilnehmende, die ein Auslandspraktikum als ihre Aufenthaltsart angegeben haben.
Nur Länder mit > 10 Teilnehmenden.

Prozentualer Anteil der Gastländer für Auslandspraktika. Es waren in VK 21 Prozent, in Spanien 13 Prozent, in Frankreich gut 10 Prozent, in Österreich 7 Prozent, in Niederlande, Irland und in Schweden rund 6 Prozent.
Quelle: Vorabpräsenation Erasmus+ Nachbefragung […], NA DAAD 2024 (vorläufige Ergebnisse), Folie 6 

Auf der Suche

Ohne eine klare Vorstellung über meinen zukünftigen Beruf zu haben, studierte ich zunächst «European Business» in Paderborn. Immerhin waren in dem Studium auch 2 Auslandssemester vorgesehen, das fand ich spannend. Und so absolvierte ich ein Erasmus-Semester an der Nottingham Trent University und ein Praxissemester in Paris bei einem italienischen Konzern. 

Nach meinem Diplom arbeitete ich zuerst als Angestellte, später dann als Selbstständige im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, eine durchaus spannende und interessante Tätigkeit, die mich aber nicht wirklich ausfüllte: Mir fehlte die Kommunikation mit jungen Menschen, der Austausch in der Fremdsprache, das Eintauchen in unterschiedliche Kulturen. Einige Jahre später entschied ich mich, ein Studium in Anglistik anzuschließen und Lehrerin zu werden.

Lehrerin als Beruf und Berufung

Heute unterrichte ich mit Leib und Seele an einem kaufmännischen Berufskolleg und koordiniere und organisiere Erasmus+ Aktivitäten an meiner Schule. Ich spreche andere Sprachen, tausche mich mit jungen Menschen aus ganz Europa aus und lerne verschiedenartige Kulturen und Länder kennen. Anfänglich war mir das gar nicht so bewusst, erst viel später wurde mir klar, dass sich alles wie ein Puzzle zusammengefügt hat und ich nun genau das mache, wovon ich immer geträumt hatte.

Meine Auslandsaufenthalte haben mich sehr geprägt und mich für mein Leben gut gerüstet. Ich bin selbstständiger geworden, ebenso flexibler im Umgang mit schwierigen Situationen, und ich habe gelernt, diese für mich selbst zu regeln. Für mich persönlich waren das unglaublich wertvolle Erfahrungen, die ich nicht missen möchte. Dank Erasmus konnte ich mich nicht nur persönlich weiterentwickeln, sondern ebenfalls beruflich einiges bewegen, wofür ich sehr dankbar bin.

Ein leidenschaftliches Bekenntnis

Ohne diese Erfahrungen würde ich heute wahrscheinlich nicht mit einem so großen Engagement Erasmus+ Projekte koordinieren, bliebe ich nicht so hartnäckig am Ball, weil ich weiß, dass es sich lohnt. Mittlerweile bin ich außerdem als Erasmus- und eTwinning-Moderatorin für die Landesregierung NRW beziehungsweise den Pädagogischen Austauschdienst tätig und bilde Lehrerinnen und Lehrer in Sachen Europa fort. Seit diesem Schuljahr schließt sich eine Tätigkeit als Mitarbeiterin der EU-Geschäftsstelle bei der Bezirksregierung Detmold an. 

Wie man sieht, spannt sich Erasmus wie ein roter Faden durch mein berufliches, aber auch privates Leben, und mittlerweile sind diese beiden Bereiche gar nicht mehr voneinander zu trennen. Durch meine zahlreichen Erasmus-Aktivitäten, insbesondere in den letzten Jahren an meiner Schule, habe ich selbst viele Freundschaften in ganz Europa geschlossen, habe ich wieder Lust bekommen, eine neue Sprache zu lernen, habe ich unzählige Schülerinnen und Schüler ins Ausland begleitet und habe beobachtet, wie sie zunehmend ihre Scheu abgelegt haben, mit Schülerinnen und Schülern aus anderen europäischen Ländern zusammenzuarbeiten und in der Fremdsprache zu kommunizieren. Wenn ein Schüler während einer solchen Reise zu mir kommt und mir sagt: «Frau Broer, ich war noch nie so glücklich in meinem Leben wie heute», dann habe ich, glaube ich, ganz viel ganz richtig gemacht – und das macht mich tatsächlich ein bisschen stolz.

Implementierung internationaler Aktivitäten am Berufskolleg

«Das Ludwig-Erhard-Berufskolleg (LEBK) hat sich zum Ziel gesetzt, Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, ihre Zukunft eigenverantwortlich zu gestalten und in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Lebenssituationen zielgerichtet zu handeln. Dabei gilt es, sich den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anforderungen im Europa des 21. Jahrhunderts zu stellen und flexibel auf Veränderungen zu reagieren», so heißt es im Leitbild der Schule in Paderborn, an der ich heute unterrichte. 

Vor diesem Hintergrund war und wird es für die bisherige und gleichfalls die zukünftige Schulentwicklung weiterhin unabdingbar sein, bei allen Beteiligten die Akzeptanz für die Vielfalt der europäischen Kulturen und Nationen zu intensivieren und die Schülerinnen und Schüler am europäischen Markt und Gedankengut teilhaben zu lassen. Das beinhaltet die Befähigung möglichst vieler Lehrkräfte des LEBK, den Europagedanken konsequent in den Unterricht zu integrieren, und die Lernenden für solche Projekte zu begeistern. Diese Zielsetzung wird seit einigen Jahren konsequent verfolgt und die zunehmende Teilnahme an Erasmus+ Mobilitäten in den vergangenen Jahren hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Internationalisierungsbestrebungen des Berufskollegs von nahezu allen Lehrkräften getragen werden.

Erasmus+ eröffnet Möglichkeiten

Immer mehr Kolleginnen und Kollegen bekunden ihr Interesse an einer Einbindung in Erasmus-Aktivitäten und tragen diese Begeisterung für Europa mit ins Klassenzimmer zu ihren Lernenden. Wir konnten durch die zahlreichen von der EU finanzierten Schüleraustausche erreichen, dass vor allem Lernende aus finanziell benachteiligten Familien die Chance haben, ins europäische Ausland zu reisen – eine Gelegenheit, die sie sonst sehr wahrscheinlich nicht so schnell gehabt hätten. Tatsächlich kommt es häufig vor, dass wir mit Lernenden reisen, die noch nie im Ausland waren. 

Aber auch für die Lehrenden ergeben sich unglaublich positive Synergieeffekte. Man tauscht sich bei Fortbildungen oder im Rahmen von Job-Shadowings im Ausland mit anderen Lehrerinnen und Lehrern aus: «Was machen Schulen in anderen Ländern? Wie begegnen sie der Chancenungleichheit? Was tun sie, um mit den Fortschritten der Digitalisierung und den[LC1]  technologischen Erneuerungen Schritt zu halten?» 

Lehrkräfte, die selbst einmal im europäischen Ausland an einem Austausch teilgenommen und in einer Gastfamilie gelebt haben, bringen eine ganz andersartige Motivation mit in den Schulalltag, und sie können diese Begeisterung für diese interkulturellen Begegnungen ebenso an ihre Schülerinnen und Schüler weitergeben. Denn nur wer selbst für etwas brennt, kann das Feuer in anderen entfachen. Das ist meines Erachtens die wichtigste Voraussetzung für eine Internationalisierung der Berufskollegs.

Rück- und Ausblick

Wenn ich zurückblicke auf die letzten 15 Jahre, stelle ich fest, dass wir sehr vieles bewegt haben: Wir haben unzählige Europa-Projekte an unserem Berufskolleg initiiert und durchgeführt, dazu gehören Onlineprojekte im Rahmen von eTwinning, Erasmus+ Austauschprojekte mit Partnerschulen in Frankreich, Spanien, Italien, Polen, Irland, der Türkei und Norwegen, Praktika im europäischen Ausland, Europatage, Einladungen von Experten der Europäischen Union für Vorträge im Klassenzimmer. Besonders freut es mich, dass wir diese Projekte nicht nur in den Vollzeitklassen realisiert haben, sondern zunehmend auch die Berufsschulklassen daran teilhaben und dass immer mehr Arbeitgeber diese Aktivitäten befürworten und unterstützen. Sie haben erkannt, dass das Angebot solcher Auslandsaufenthalte im Rahmen der Berufsausbildung qualifizierte Auszubildende anlockt.

Programme wie Erasmus+ sind meines Erachtens heute wichtiger denn je: Sie wirken dem Fachkräftemangel entgegen und sind der Garant dafür, dass wir in Zukunft in Europa in Sicherheit leben können. Wenn junge Menschen ein Verständnis für andere Kulturen und Lebensweisen entwickeln, dürfen wir hoffen, dass sie sich später in der Arbeitswelt demokratisch mit unterschiedlichen Meinungen auseinandersetzen und einen fairen, respektablen Umgang mit verschiedenen Kulturen pflegen. Dann werden sie in der Lage sein, sich anzupassen und gleichzeitig für die eigenen Werte einzustehen.

Wo sehe ich mich in der Zukunft? Ich sehe mich mit noch vielen Schülerinnen und Schülern ins europäische Ausland fahren, sehe mich, wie ich immer wieder neue Länder kennen- und neue Sprachen dazulerne. Ich sehe mich an vielen Tischen Europas zu Abend essen und eintauchen in die spannende Welt der anderen Kulturen und Lebensweisen. Und dabei werde ich erneut feststellen, dass wir doch viel mehr gemeinsam haben als alles, was uns trennt. 

Nicole Broer war mit Erasmus+ u.a. 1993 im Vereinigten Königreich.