Text: Frauke Stebner
Die Förderung von Inklusion durch die NA DAAD
Die Abweichung zwischen der Gesamtgefördertenzahl Teilnehmender mit einem Aufstockungsbetrag (2.655) und der Summe Geförderter, die konkret einzelnen Zielgruppen zugerechnet sind (insgesamt 2.335), ergibt sich aus Unterschieden in der Berichterstattung bei der Zuordnung der Zielgruppen durch Hochschulen. 320 Mobilitäten mit Aufstockungsbetrag sind demnach nicht eindeutig einer der durch die NA DAAD national definierten Zielgruppe, sondern den durch die Europäische Kommission definierten Hürden zuzurechnen.
Einfachere Zugänge zu Erasmus+ für Studierende mit geringeren Chancen
Mit dem ersten Aufruf der Programmgeneration 2021–2027 hat die NA DAAD die Gruppe der Teilnehmenden mit geringeren Chancen, die einen monatlichen Aufstockungsbetrag von 250 Euro erhalten, erweitert. Zusätzlich zu Studierenden mit Kind(ern) und Studierenden mit einer Behinderung können seitdem auch Studierende mit einer chronischen Erkrankung die finanzielle Unterstützung beantragen. Zudem haben Hochschulen seit dem Wintersemester 2022/2023 im Aufruf 2021 die Möglichkeit, ebenfalls erwerbstätige Studierende und Studierende aus einem nicht akademischen Elternhaus mit dem Aufstockungsbetrag zu fördern.
Seit den Projekten der Aufrufe 2022 müssen Hochschulen die Förderung über Aufstockungsbeträge für alle genannten Zielgruppen umsetzen. Die entsprechenden Voraussetzungen für Teilnehmende mit geringeren Chancen sind im Kriterienkatalog für die finanzielle Zusatzförderung zusammengefasst, der im Downloadcenter der NA DAAD hinterlegt ist.
Neue Zielgruppen
Bereits in der Förderrunde 2021–2023 der aktuellen Programmphase konnte durch die Erweiterung der Zielgruppen ein enormer Zuwachs in der Förderung Teilnehmender mit geringeren Chancen erzielt werden. So stieg der Anteil Studierender, die einen monatlichen Aufstockungsbetrag erhielten, von durchschnittlich deutlich unter 1 Prozent in der vergangenen Programmgeneration auf 8,6 Prozent (2.655 Geförderte) in Projekten des Aufrufs 2021.
Hierbei entfielen 16 Prozent der Zusatzförderungen (425 Geförderte) auf Studierende mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung und 1,9 Prozent (51 Geförderte) auf Studierende, die mit Kind einen Erasmus-Aufenthalt durchgeführt haben. Darüber hinaus wurden 1.600 Studierende aus einem nicht akademischen Elternhaus (60,3 Prozent der gesamten Zusatzförderungen) und 259 erwerbstätige Studierende (9,8 Prozent) durch einen Aufstockungsbetrag unterstützt.
Die Gefördertenzahlen der beiden letztgenannten Gruppen sind besonders bemerkenswert, da im Aufruf 2021 Hochschulen über die Förderung dieser Gruppen entscheiden konnten. Erst seit den Aufrufen 2022 ist die Umsetzung verpflichtend, sodass mit Abschluss dieser Projekte ein noch stärkerer Zuwachs in der Zuweisung der Aufstockungsbeträge zu erwarten ist.
Intensivere Kommunikation und Vernetzung
Ein zweiter Schritt auf dem Weg zu einem inklusiveren Erasmus+ Programm ist der Ausbau des Informationsaustauschs und der Vernetzung beteiligter Akteure. Ganz bewusst werden hierbei Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Positionen an Hochschulen sowie Studierende und Expertinnen und Experten einbezogen und so auf ein großes Spektrum an Erfahrungswerten und unterschiedlichen Perspektiven zurückgegriffen.
Zuletzt tauschten sich im März dieses Jahres unter dem Motto «Mobilität chancengerecht – gemeinsam Hürden überwinden und Barrieren abbauen» etwa 80 Hochschulmitarbeitende, Studierende sowie Kolleginnen und Kollegen der Nationalen Agentur über bestehende Mobilitätshürden aus und entwickelten dabei konkrete Handlungsempfehlungen zu deren Abbau. Zudem startete im April dieses Jahres die Onlinetrainingsreihe «Vielfalt im Dialog». Ziel ist es, in 6 über das Jahr verteilten Sessions Hochschulangehörige und NA-DAAD-Mitarbeitende gleichermaßen mit einem möglichst einfach in den Arbeitsalltag integrierbaren Angebot thematisch fortzubilden und zu vernetzen.
Umsetzung in der Praxis
An den Hochschulen selbst kann Inklusion im Rahmen von Erasmus+ in ganz unterschiedlichen Bereichen und auf vielfältige Art und Weise Thema sein. Die Beispiele der Universitäten Bielefeld und Göttingen zeigen dies nachdrücklich.
Frauke Stebner/NA DAAD
Beispiel 1: Universität Bielefeld
Mehr Bewusstsein für Inklusion im Fachbereich Philosophie
Text: Kinga Golus
Inklusion und Diversität in der Philosophie
In der Abteilung Philosophie der Universität Bielefeld nehmen Lehrende bereits seit einigen Jahren eine fachwissenschaftliche Perspektive zum Themenkomplex «Inklusion und Diversity» ein. So werden beispielsweise in Seminaren ethische Fragen zum Zusammenhang von Menschenwürde und Behinderung oder einem guten Leben mit (körperlichen) Einschränkungen diskutiert.
Zur fachwissenschaftlichen ist seit einigen Semestern auch eine fachdidaktische Perspektive zu Inklusion in der Lehrkräfteausbildung hinzugekommen. In diesem Kontext geht es im Wesentlichen um die beiden Kernfragen, wie Inklusion Thema des Philosophieunterrichts werden kann und wie sich inklusiver Philosophieunterricht konzeptionell und in der Praxis realisieren lässt. Darüber hinaus soll mit neueren Initiativen insbesondere Studierenden, die als Erstakademiker*innen ein Studium beginnen, geholfen werden, das System Universität mit all seinen offiziellen und inoffiziellen Regeln kennenzulernen, um so die Aussichten für einen persönlichen Studienerfolg zu verbessern.
Wie Erasmus+ den Prozess ergänzt
Die neue Erasmus+ Programmgeneration ergänzt diese unterschiedlichen Aktivitäten im Rahmen der Bielefelder Abteilung Philosophie um eine weitere Ebene der Sensibilisierung für die Umsetzung von Inklusion. Dabei geht es in erster Linie darum, auf der Leitungsebene ein Bewusstsein dafür zu schaffen, Personal wie beispielsweise Erasmus-Koordinator*innen fortzubilden. Dazu gehört unter anderem, inhaltlich und methodisch passende Fortbildungsformate zu identifizieren.
Eines dieser Formate ist ein 15-monatiges Trainingsprogramm «The Inclusion ACAdemy», das von der Academic Cooperation Association in Zusammenarbeit mit der NA DAAD und weiteren nationalen Agenturen von Januar 2023 bis Mai 2024 angeboten wurde. Es fanden Sitzungen sowohl online als auch in Präsenz statt. Die Teilnehmenden waren hauptsächlich Mitarbeitende von International Offices beziehungsweise Erasmus+ Koordinator*innen, die sich online aus Österreich, Kroatien, Finnland, Island, Slowenien und Deutschland zuschalten konnten. Eine abschließende Konferenz in Präsenz machte einen persönlichen Austausch zu Fragen der Beratung zum Themenfeld «Inklusion, Diversität und Internationalisierung» möglich.
Neben langfristig angelegten Formaten bietet die NA DAAD regelmäßig Fortbildungen an, zum Beispiel in Berlin im November 2023 die TCA «Moving closer to inclusive internationalisation in Higher Education» oder in Bonn im März 2024 «Mobilität chancengerecht – gemeinsam Hürden überwinden und Barrieren abbauen». Ressourcen für solche Fortbildungen bereitzustellen und somit zu ermöglichen, eine fundierte Expertise zu Inklusion, Diversität und Internationalisierung aufzubauen, ist langwierig. Es muss daher auf Leitungsebene die Sensibilität und auch den Willen geben, Inklusion multiperspektivisch in einer Abteilung zu verankern. Die Abteilung Philosophie hat sich zum Ziel gesetzt, dieses Vorhaben langfristig umzusetzen.
Professor Dr. Christian Nimtz
Beispiel 2: Universität Göttingen
Eine Herausforderung, die Chancen bietet
Text: Karen Denecke
Als sich abzeichnete, welche Zielgruppen zu den Teilnehmenden mit geringeren Chancen zählen, war uns klar, dass wir unsere Prozesse und Kalkulationsmuster überdenken und anpassen sollten. Um es vorwegzunehmen: Die Pandemie hat Spuren hinterlassen. Die Digitalisierung von Erasmus+ fordert(e) ihren Tribut und die Einführung der neuen Programmgeneration hatte ebenso ihre Tücken.
Nun rollte schon die nächste Herausforderung auf uns zu. Nicht alle Schritte, die wir bis heute umgesetzt haben, sind in Stein gemeißelt. Nach jeder Bewerbungsphase oder jedem Projektabschluss zeigt sich, in welchem Detail noch Verbesserungspotenzial steckt, beispielsweise in der Kommunikation, in der Administration oder bei der technischen Anwendung (zum Beispiel Barrierefreiheit).
Neue Chancen in Zahlen
Nach den Projekten 2021 und 2022 können wir mit dem 23er nun auf weitere Zahlen zurückgreifen und diese besser einordnen. Da unsere Hochschule noch über Mittel aus dem Projekt 2021 verfügte, machten wir ab dem Wintersemester 2022/2023 von der Möglichkeit Gebrauch, auch erwerbstätige Studierende und Studierende aus einem nicht akademischen Elternhaus mit einem Aufstockungsbetrag zu fördern. So wurde im Sinne der Mittelausschöpfung entschieden, Studierende, die in diesem Semester in Ländern der damaligen Ländergruppe 3 im Ausland studieren wollten, sowie Studierende, die in dieser Zeit ein Praktikum innerhalb der noch verbleibenden Projektlaufzeit planten, bei Vorliegen der Voraussetzung aus dem Projekt zu unterstützen.
Insgesamt konnten im Projekt 2021 von 301 Personen 38 Studierende, darunter 34 Erstakademiker*innen, 3 Erwerbstätige und 1 Person mit Beeinträchtigung einen Aufstockungsbetrag erhalten. Im Projekt 2022, in dem bislang 511 Personen gefördert worden sind (Stand: 27.05.2024), waren es bereits 146 Studierende (125 Erstakademiker*innen, 13 erwerbstätige Studierende und 8 Studierende mit einer Beeinträchtigung, inklusive 1 bewilligter Realkostenantrag).
Im Projekt 2023 zählen wir derzeit 365 Geförderte (Stand 27.05.2024). Davon erhielten 103 Studierende den Top-up. Hier zeigt sich ebenfalls, dass die Gruppe der Erstakademiker*innen die größere Kohorte ist. Noch ist diese Zahl nicht endgültig, da das Projekt noch bis Juli 2025 läuft und aufgrund fortlaufender Bewerbungen im Bereich «Praktika» und bei den Blended Short-Term Mobilities noch Luft nach oben ist.
Neue Prozesse für mehr Teilhabe
Die Erasmus+ Bewerbungsprozesse organisieren wir in der Abteilung Göttingen International über ein Mobilitätsportal. In unseren Onlinebewerbungsformularen können Bewerbende (Studierende wie Personal) angeben, ob sie sich einer der Zielgruppen (Informationen stehen in einem Textfeld) zugehörig fühlen. Details werden mit der Bewerbung noch nicht abgefragt. Es geht zunächst darum, eine erste Einschätzung vornehmen zu können, insbesondere mit Blick auf die Projektantragstellung im Bereich «Studierendenmobilität zu Studienzwecken».
Nach Abschluss des Auswahlverfahrens (Ende April) erhalten alle nominierten Studierenden per automatisierter E-Mail den Hinweis, dass nun die Möglichkeit besteht, formal und innerhalb der gesetzten Frist (in der Regel 14 Tage) einen Antrag für den Aufstockungsbetrag zu stellen. Im Sinne der Chancengleichheit ist es uns wichtig, all die Studierenden, die zu einer der Zielgruppen gehören, tatsächlich zu erreichen.
Im Bewerbungsformular handelt es sich bewusst noch nicht um eine Pflichtangabe. Manch eine*r braucht zunächst aus ganz persönlichen Gründen noch Überlegungszeit und gegebenenfalls bedarf es erst einmal einer Beratung (Nachweis, Anrechnung auf das BAföG, unterschiedliche monatliche Verdiensthöhe und anderes). Genauso wenig ist es ausgeschlossen, dass zum Zeitpunkt der Bewerbung die Situation eine ganz andere war und sich eine Zuordnung zu einer der Zielgruppen erst im Laufe des Nominierungsprozesses ergeben hat.
An der Stelle bin ich sehr dankbar für die Bereitschaft im Team, immer wieder in die Prozessanalyse einzusteigen, um unsere Zielgruppen bestmöglich abzuholen. An der Stelle gleichfalls ein Dank an die NA DAAD für das unermüdliche Engagement, die Hochschulen aktiv in der Umsetzung des Programms zu unterstützen.
Wie Erasmus auch ins Private wirkt
Der Eindruck, dass Studierende oft sehr dankbar sind für die finanzielle Unterstützung durch das Programm, bestätigt sich durch persönliche Rückmeldungen und einzelne Berichte. Vor einiger Zeit kam ich im Freundeskreis auf das Erasmus+ Programm zu sprechen und dabei erwähnte ich auch die neuen Aufstockungsbeträge. Gefragt wurde unter anderem, wie wir denn sicherstellen wollen, dass nicht geschummelt wird. Meine Antwort: Wir vertrauen unseren Studierenden. Zudem wissen sie, dass es programmbedingt zu Stichproben kommen kann. Zu beanstanden gab es bis heute nichts.
Nicht immer gelingt es uns und den Koordinator*innen an den Fakultäten, die Zielgruppen (direkt) zu erreichen. Daher sollten mögliche Multiplikator*innen innerhalb einer Hochschule wie Beauftragte für Studierende mit Beeinträchtigungen, Schwerbehindertenvertretung, Familienservice oder Studierendenvertretungen ins Boot geholt und informiert werden, welche Möglichkeiten das Programm anbietet.
Mich persönlich hat die Priorisierung von Inklusion und Vielfalt noch ein Stück weiter sensibilisiert, um genauer hinzuhören und hinzusehen sowie Hürden zu identifizieren, die ich vorher nicht oder vielleicht nicht als solche wahrgenommen habe.