Foto: Matthias Maurer mit Astronautenhelm
© SPACEX/ESA/NASA (CC BY-NC-SA 2.0)

Ein Blick von außen... Der Erasmus-Alumnus und ESA-Astronaut Matthias Maurer im Interview

Lesezeit: 11 min

Von November 2021 bis Mai 2022 verbrachte Dr. Matthias Maurer 177 Tage im All und unterstützte über 35 europäische und zahlreiche internationale Experimente an Bord der Internationalen Raumstation ISS. Die Zeit im Orbit ist ein Höhepunkt in der Laufbahn des Wissenschaftlers, der früh europäisch geprägt wurde. 

Johannes Göbel (Fazit) führte das Interview für den DAAD 

Herr Dr. Maurer, über Ihr Erasmus-Jahr an der Universität Leeds 1993 haben Sie einmal gesagt, es sei vielleicht der Beginn Ihrer Reise ins All gewesen. Warum war diese Zeit so wichtig für Sie?

Matthias Maurer: Leeds war mein erster Auslandsaufenthalt im Studium – und für mich ein Sprung ins kalte Wasser. Als angehender Ingenieur wollte ich unter anderem meine Englischkenntnisse verbessern, aber die Entscheidung für Erasmus war mit vielen Fragen verbunden: Schaffe ich das? Was erwartet mich in Leeds? Was werde ich lernen? Passt das zu meinem Studium oder wird es vielleicht ein verlorenes Jahr? Ich habe den Schritt dann gewagt, und die Zeit in Leeds wurde zu einem sehr positiven Erlebnis und zu einer Initialzündung für weitere Auslandsaufenthalte. Ich habe dann auch in Frankreich und Spanien studiert. Internationale Zusammenarbeit, die für mich als Astronaut sehr wichtig ist, habe ich somit früh gelernt.

Wie hat Sie speziell Ihr Erasmus-Aufenthalt in England geprägt?

Fachlich habe ich an der Universität Leeds eine neue Art des Studiums kennengelernt: Viel Arbeit in kleinen Gruppen, vergleichsweise wenig Theorie, dafür stark orientiert am praktischen Verständnis. Es war eine Konzentration auf die Vermittlung des Wesentlichen, von dem mir viel bis heute in Erinnerung geblieben ist. Das zeigt, wie wichtig es ist, Studierende nicht mit zu viel Stoff zu überfrachten.

Wie haben Sie sich seinerzeit in England eingelebt?

Mir hat sehr geholfen, dass ich in einer WG mit vier Engländern und zwei Kanadiern gewohnt habe. Das Kennenlernen hat eine Woche gedauert, danach habe ich mich pudelwohl gefühlt. Noch heute bin ich in Kontakt mit meinen ehemaligen Mitbewohnern. Auch hat die Zeit in England definitiv meinen Blick auf Europa geöffnet.

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Inwiefern?

Damals konnte ich auf mein Motorrad springen und mit meinem deutschen Personalausweis problemlos nach England fahren. Dass das mittlerweile nicht mehr so einfach ist, habe ich unlängst bei einer Reise auf die Insel erlebt. Mit dem Brexit hat der deutsch-britische Austausch an Selbstverständlichkeit und Freiheit verloren, die ich noch erleben durfte. Europäischer Austausch hat für mich besondere Bedeutung. Ich komme aus dem Saarland und habe im benachbarten Frankreich früh die Gedenkstätte Verdun besucht, die an das schlimmste Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs erinnert. Krieg und Streit sind eine Art, sich mit seinen Nachbarn auseinanderzusetzen. In England habe ich gelernt, wie man mit Menschen aus einem anderen Kulturkreis, mit einer anderen Sprache, klarkommt. Das hat für mich den Weg gezeigt, wie man in einem vereinten Europa zusammenleben kann.

Sie haben angesprochen, dass Sie nach Ihrer Zeit an der Universität Leeds auch Frankreich und Spanien durch Ihr Studium näher kennengelernt haben. Wie waren Ihre Erfahrungen in beiden Ländern?

In Frankreich ist mir ein weiterer fachlicher Ansatz begegnet, bei dem sehr tief in die Theorie eingestiegen wurde, etwa in Mathematik, Physik und Technische Mechanik. Ich musste mich durchboxen: Nachdem es in England so gut gelaufen war, dachte ich, dass es an der European School for Materials Technology in Nancy ähnlich wird. Aber in Frankreich war es für mich nicht nur fachlich anspruchsvoll. Mein Schulfranzösisch reichte nicht, um mich direkt wohlzufühlen und zurechtzukommen. Das hat seine Zeit gebraucht.

Und wie war es in Spanien?

Die Gewichtung von Praxis und Theorie war sehr ähnlich wie in Deutschland. Das hat es mir leicht gemacht, mich einzugewöhnen. Spanisch musste ich erst lernen, aber das hat recht gut geklappt. Den Aufbau des Curriculums an der Universitat Politècnica de Catalunya in Barcelona fand ich vergleichbar mit dem Studium an meiner Heimathochschule, der Universität des Saarlandes. Und mir hat die große Warmherzigkeit und Offenheit der Spanier beim Eingewöhnen geholfen. Ich kann sagen: Jede meiner europäischen Studienerfahrungen war toll – und ich habe aus jedem Land etwas mitgenommen, das mich weitergebracht hat.

Auch mit Blick auf Ihre Karriere als Astronaut?

Ich denke, mein europäischer Weg war ein entscheidender Baustein für meine Auswahl durch die ESA (European Space Agency). Neben mir wurden seinerzeit von 8.500 Kandidatinnen und Kandidaten nur sieben von der ESA ausgewählt. Rein technisch und fachlich hätten es von den 8.500 sicherlich die meisten auch schaffen können, aber ich glaube, meine starke europäische Prägung war ein entscheidender Vorteil.

Ich denke, mein europäischer Weg war ein entscheidender Baustein für meine Auswahl durch die ESA (European Space Agency).
Matthias Maurer
Foto: In der Internationalen Raumstation schweben Matthias Maurer und Samantha Cristoforetti im Arm eines leeren Raumanzugs
© ESA/NASA (ESA Standard Licence)

Mit der italienischen Erasmus-Alumna Samantha Cristoforetti und Matthias Maurer befanden sich 2022 erstmalig 2 ESA-Astronauten gemeinsam an Bord der ISS. 

Man muss als ESA-Astronaut also auch europäisch denken?

Ich möchte das mit einem Blick von außen verdeutlichen: Als Astronaut fliegt man in rund 90 Minuten einmal um die Erde. Es dauert gerade einmal fünf Minuten, und schon ist man über Europa hinweggeflogen. Weltweit können wir als Europäerinnen und Europäer nur mithalten, wenn wir an einem Strang ziehen. Wir müssen weiter zusammenwachsen, und das heißt, wir müssen manche nationale Befindlichkeit und Dinge, die uns historisch trennen mögen, hinter uns lassen. Wir müssen weiter zueinander finden und eine gemeinsame europäische Identität aufbauen. Die verschiedenen Länder Europas und seine vielfältigen Unterschiede in Kultur und Sprache bedeuten einen Reichtum, der uns auch Vorteile gegenüber anderen Raumfahrtnationen bietet.

Hat Sie Ihr europäisches Studium auch auf die Zeit auf der Internationalen Raumstation ISS vorbereitet?

Ja, denn wenn man ein halbes Jahr im All lebt und forscht, dann ist das wichtigste Auswahlkriterium Sozialkompetenz. Man muss auch in stressigen und gefährlichen Situationen alles dafür tun, dass das Team harmonisch und funktionell arbeiten kann. Geht man dieses Abenteuer nur mit einer deutschen Brille an, ist das problematisch. Man muss auch für andere Herangehensweisen offen sein. Und man muss miteinander reden, um zwischenmenschliche Spannungen abzubauen. Niemand bringt den perfekten Lösungsansatz auf die ISS mit. Den muss man sich immer wieder gemeinsam erarbeiten. Die dafür notwendige Offenheit habe ich durch meine Auslandsaufenthalte erworben.

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Wie begegnen sich unterschiedliche Wissenschaftskulturen auf der ISS?

Es gibt zum Beispiel im Labor unterschiedliche Ansätze. Der amerikanische Ansatz folgt gerne dem Prinzip «fail early, fail often». Da ist es geradezu erwünscht, dass ein Experiment auch einmal schiefgeht, weil man daraus sehr schnell etwas lernen kann. Beim deutschen Ansatz wird dagegen eher Wert auf einen möglichst perfekten Versuchsaufbau gelegt. Bis der aber gelingt, können Jahre vergehen – und die dazugehörige Fragestellung ist dann vielleicht schon obsolet. Man muss immer einen guten Kompromiss zwischen den verschiedenen Ansätzen finden. Als Wissenschaftler im All nimmt man ohnehin eine neue Rolle an.

Foto: 6 Astronauten auf der ISS
© ESA/NASA (CC BY-NC-SA 2.0)

Die Besatzung der Expedition 66 begrüßt die dreiköpfige Sojus MS-20-Besatzung mit den japanischen Weltraumtouristen Yusaku Maezawa und Yozo Hirano sowie dem Roskosmos-Kosmonauten Alexander Misurkin. (8. Dezember 2021)

Wie meinen Sie das?

Im All ist man oft eher Laborant als Wissenschaftler. Es ist wichtig zu verstehen, mit welchen Zielsetzungen die von uns durchzuführenden Experimente entwickelt wurden. Man hat eine große Verantwortung und will dazu beitragen, dass die Kolleginnen und Kollegen auf der Erde ihre Daten bestmöglich erhalten. Ich weiß, wie viel Aufwand und Herzblut die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihre Experimente investieren. Manchmal gehören zu einem Experiment zehn Jahre Vorbereitungszeit. Dann will man natürlich nicht derjenige sein, der mit einem Fehler alles kaputt macht.

Was sind Ihre nächsten wissenschaftlichen Ziele?

Zum einen verfolgen wir weiterhin sehr aufmerksam, welche Erkenntnisse die Experimente auf der ISS bringen. Die Schwerelosigkeit bietet uns außergewöhnliche Bedingungen – und Experimente für die ISS können immer schneller entwickelt werden. Wir sehen erhebliche Fortschritte bei der Entwicklung von Medikamenten. Sogar zum Züchten von Spenderorganen könnten Experimente im All beitragen und dadurch dem extremen Mangel auf der Erde begegnen. Zudem rücken Mond und Mars wieder stärker in den Fokus der Forschung.

Was versprechen Sie sich davon?

Wir haben erst kürzlich herausgefunden, dass der Wüstenplanet Mars riesige Reserven gefrorenen Wassers enthalten könnte. Das ist natürlich spannend mit Blick auf die Frage, ob es auf dem Mars einmal Lebensformen gegeben hat. Vielleicht können wir in diesem Zusammenhang sogar mehr darüber erfahren, wie das Leben auf die Erde gekommen ist. Der Mond könnte für Weltraumreisen zu einem Sprungbrett zum Mars werden: Eine Reise zum Mars würde aktuell zwei Jahre dauern. Dabei wären die Reisenden zu hohen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt, etwa krebserregender Weltraumstrahlung. Das macht den Mond als Zwischenstation noch einmal besonders interessant.

Was gibt es auf dem Mond noch zu entdecken?

Auch auf dem Mond befindet sich gefrorenes Wasser. Es ist wohl zur selben Zeit dorthin gelangt, wie das Wasser auf die Erde. Somit kann auch die Mondforschung dazu beitragen, die Entstehung des Lebens auf der Erde besser zu verstehen. Zudem bietet der Mond außergewöhnliche Ressourcen: Aus Mondsand können wir vielleicht einmal Sauerstoff zur Versorgung der Forschenden gewinnen. Und das angesprochene Mondeis lässt sich eventuell in Raketentreibstoff umwandeln. Der Mond könnte zur Tankstelle für Weltraumflüge werden. Viele der angesprochenen Themen beschäftigen uns bereits am Kölner Astronautenzentrum der ESA. Dort bauen wir aktuell an einer hochmodernen Trainingsanlage für den Mond, von der wir uns wegweisende Erkenntnisse versprechen.

Zu Ihrer Zeit auf der ISS gehört auch der 24. Februar 2022, der Tag, an dem Russland mit seinem Angriff den Krieg gegen die Ukraine begann. Wie hat das Ihr Leben auf der ISS verändert?

Für uns alle auf der ISS war das ein schrecklicher Moment. Die Beleuchtung der ukrainischen Städte verschwand; das Land verdunkelte sich vom All aus betrachtet. Mitten in Europa entstand ein schwarzer Fleck, und mir wurde sofort klar, dass sich das Leben der Menschen dort radikal veränderte. Mich hat das sehr getroffen, weil es für mich im heutigen Europa eigentlich unvorstellbar war. Ich dachte, wir hätten unsere Lektion aus den Kriegen der Vergangenheit gelernt.

Was wünschen Sie Europa für die Zukunft?

Zuerst natürlich Frieden! Und ich wünsche mir ein Europa, das geeint ist und gemeinsam agiert. Dazu trägt Erasmus bei! Das ist umso nötiger, wenn wir auf die sich verändernde Welt blicken. Asiatische Raumfahrtnationen sind dabei, uns zu überholen. China hat bereits eine eigene Raumstation; Indien arbeitet an einer Raumkapsel, um Astronauten ins All zu fliegen und will zudem ebenfalls eine Station aufbauen. Auch Südkorea und Japan sind sehr aktiv. Wir müssen uns in Europa anstrengen, um in der ersten Liga der Raumfahrt mitzuspielen und damit zum Erhalt unseres Wohlstands und unserer Lebensqualität beizutragen. Nicht nur in den Feldern Wissenschaft und Technologie sollten wir unsere Kräfte bündeln: Es gilt auch, unsere Demokratien robust aufzustellen. Das ist ein großer Wunsch, den ich für Europa habe: dass wir weiterhin gemeinsam wachsen und unsere demokratischen Werte jederzeit schützen.

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Und ich wünsche mir ein Europa, das geeint ist und gemeinsam agiert. Dazu trägt Erasmus bei! Das ist umso nötiger, wenn wir auf die sich verändernde Welt blicken.
Matthias Maurer

Vielen Dank für das Gespräch.

Einsatz im Weltall und auf der Erde

Sein Studium der Materialwissenschaft und Werkstofftechnik führte den 1970 geborenen Maurer an die Universität des Saarlandes, mit einem Erasmus-Jahr 1993 an die Universität Leeds sowie an die European School for Materials Technology in Nancy und die Universitat Politècnica de Catalunya in Barcelona. Maurer erwarb mehrere Diplomabschlüsse als Ingenieur und schloss sowohl einen Master als Wirtschaftsingenieur an der FernUniversität in Hagen als auch eine Promotion an der RWTH Aachen an. Im ESA-Astronautenzentrum in Köln leitete der Saarländer vor seiner Reise ins All die Entwicklung der neuen Mondsimulationsanlage Luna – und auch seit seiner Rückkehr setzt sich Matthias Maurer vielfältig für die Erforschung und das Verständnis des Weltraums ein. 

Weitere Fotos über den Aufenthalt von Matthias Maurer auf der ISS finden Sie unter:

www.flickr.com

https://www.esa.int

https://www.esa.int

Foto: Matthias Maurer in der ISS mit Blick durch zwei runde Fenster auf die Erde und ins Weltall
Foto: ESA/NASA/Matthias Maurer (CC BY-NC-SA 2.0);

«Ein Sichtfenster voller Technik. Die von der ESA – der Europäischen Weltraumorganisation – gebaute Kuppel ist unser ‹Fenster zur Welt› und der Lieblingsplatz vieler Astronauten auf der Internationalen Raumstation. Sie bietet aber nicht nur einen unglaublichen Blick auf die Erde, sondern dient auch zur Beobachtung der Aktivitäten des Roboterarms der kanadischen Weltraumbehörde, von ankommenden Raumfahrzeugen und Weltraumspaziergängen.[1]  Als ich das erste Mal hinausschaute, dachte ich zunächst, das ganze Weiß sei der Himmel, bis mir klar wurde, dass es sich um die Erde handelte, die vollkommen vom Schwarz des Weltraums umgeben war. Ein atemberaubender Anblick!» (30.11.2021)