«Erasmus war das bedeutendste Ereignis meines beruflichen Lebens»

Ein Studienaufenthalt als Startpunkt für ein Leben in Deutschland
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Text: Die Fragen stellte Marcus Klein

Gilles Roux gehört zur ersten Generation europäischer Studierender, die mit dem von der damaligen Europäischen Gemeinschaft initiierten Förderprogramm Erasmus mobil waren. 1990 kam er aus der Provence nach Baden-Württemberg – und ist seitdem in Deutschland geblieben. Im Gespräch mit dem DAADeuroletter erinnert er sich an die schwierige Startphase, warum es sich trotzdem gelohnt hat und er allen Studierenden nur raten kann, Erasmus zu nutzen.

© Patrick Tiedke

Gilles Roux war während seines Jurastudiums an der Universität Aix-en-Provence mit Erasmus 1990 an der Universität Tübingen. Seitdem hat er seine gesamte berufliche Laufbahn entweder in Deutschland oder für deutsche Unternehmen im Ausland verbracht.

© Friedhelm Albrecht/Universität Tübingen

Gilles Roux kam 1990 mit Erasmus an die Universität Tübingen.

Monsieur Roux, warum haben Sie sich Ende der 1980er, Anfang der 1990er-Jahre für einen Auslandsaufenthalt mit Erasmus an der Universität Tübingen entschieden?

Gilles Roux: Ich war von Kindheit an von Ländern und Fremdsprachen angezogen und hatte bereits im Alter von 18 Jahren durch die Stiftung Fondation Entente Franco-Allemande einen Sommerjob bei der deutschen Post in Langen ergattert. Das war 1988. Im da­rauffolgenden Jahr war ich dann nochmals bei der Post, diesmal in Frankfurt am Main. 

Es war eine tolle Zeit, wirklich Liebe auf den ersten Blick. Es war für mich daher nur natürlich, im Jahr 1990 am Erasmus-Programm teilzunehmen und von der Partnerschaft zwischen der Universität Aix-en-Provence und der Universität Tübingen zu profitieren, um meinen Maîtrise in Rechtswissenschaften zu absolvieren.

Was waren Ihre Eindrücke? Welche bleibenden Erfahrungen haben Sie gemacht?

Die ersten 3 Monate waren schwierig. Die juristische Terminologie, die andersartige Schreibtechnik im Vergleich zum Französischen, sogar die Öffnungszeiten der Geschäfte am Samstag waren unterschiedlich. In den ersten Wochen hatte ich jeden Abend Kopfschmerzen. Niemand hatte uns auf einen solchen Kulturschock vorbereitet. Laurent Fabius sagte 2014, dass «die Deutschen keine Franzosen seien, die Deutsch sprechen»; das hatte ich bereits 1990 verstanden.

Nach diesen 3 Monaten wurde alles leichter, denn die Deutschen sind sehr gastfreundlich. Sie sind sehr frankophil, und daher öffneten sich die Türen von selbst. Ich schloss mich einer deutschen Lerngruppe an und repräsentierte mit ihnen Tübingen beim René-Cassin-Menschenrechtspreis in Strasbourg. 

Die Erasmus-Erfahrung war so positiv, dass ich in Deutschland geblieben bin. Dieses Jahr feiere ich mein 34. Jahr als Expatriate.

Wahrgenommene Relevanz der Qualifikationen für die aktuelle Position

Angaben in Prozent, N = 13.776
Personen, die derzeit eine Position als Angestellte/r oder Beamtin/Beamter innehaben oder selbständig sind

Quelle: Vorabpräsenation Erasmus+ Nachbefragung […], NA DAAD 2024 (vorläufige Ergebnisse), Folie 17 

Würden Sie sagen, dass Erasmus einen Wendepunkt in Ihrem Leben bedeutete beziehungsweise einläutete?

Erasmus war das bedeutendste Ereignis meines beruflichen Lebens. Ohne Erasmus hätte ich nicht die Möglichkeit gehabt, mein Deutsch so zu perfektionieren, wie es heute ist, und indirekt auch mein Englisch. Als Südfranzose aus einer Familie der Mittelschicht hätte ich auch kaum, wenn überhaupt, die Karriere gehabt, die ich heute habe, wenn ich nicht an Erasmus teilgenommen hätte.

Darüber hinaus hat Erasmus mich für eine andere Kultur geöffnet. Während des gesamten Austauschs habe ich deutsch gelebt, geatmet und gegessen. Die Möglichkeit, eine Kultur zu übernehmen, die nicht die eigene ist, lässt einen wachsen und öffnet einen für andere. Das ist definitiv die Stärke Europas, die es nicht zu verlieren gilt.

Sie bezeichnen Humanismus als wesentlichen Faktor für den Erfolg von Unternehmen. Was verstehen Sie darunter? Und kann ein Programm wie Erasmus+ dazu einen Beitrag leisten?

Der Erfolg von Unternehmen wird heute nicht mehr nur in Bezug auf den Gewinn gemessen, sondern auch nach dem Einfluss auf ihre soziale und natürliche Umwelt. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass Humanismus heute der entscheidende Faktor für den Erfolg von Unternehmen ist. 

Das humanistische Unternehmen ist eine Organisation, die sich verpflichtet, das Wohlergehen seiner Mitarbeiter und der Umwelt zu respektieren. Das humanistische Unternehmen verankert die Organisation in einer nachhaltigen Kultur, der Mitarbeiter aller Hierarchieebenen eingeladen sind, beizutreten.

Erasmus wird durch die Tatsache, dass es die Jugendlichen anderen Kulturen und Umgebungen öffnet, zu einem Eckpfeiler einer europäischen humanistischen Kultur. Erasmus-Studenten werden zu Europäern, die sich ihrer nationalen Herkunft bewusst sind, aber auch eines europäischen kulturellen Kollektivs, das das Wohlergehen und den angemessenen Platz jedes Einzelnen in Europa berücksichtigt. Aus diesem Grund ist Erasmus ein humanistischer Ansatz.

Würden Sie jungen Menschen zu einer Erasmus-Mobilität raten?

3 Mal dürfen Sie raten! Erasmus ist eine außergewöhnliche Erfahrung, die man nicht verpassen sollte. Aber es ist auch eine enorme Verantwortung der europäischen Staaten, das Sprachenlernen stark zu fördern, damit unsere Jugend Erasmus und alle Möglichkeiten, die Europa bietet, nutzen kann. Erasmus ist eine Tür zur Zukunft und zur Mobilität, aber nur die nationalen Bildungssysteme sind in der Lage, die Schlüssel dafür bereitzustellen.

Die Fragen stellte Marcus Klein. 

Gilles Roux war mit Erasmus+ 1990/1991 in Deutschland.