Weltweite Mobilität strategisch nutzen

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Wie kann mit der globalen Mobilität das Erasmus+ Programm konkret zur Internationalisierung der Hochschulen beitragen? Wir blicken auf die strategische Bedeutung dieses Angebots für die internationale Zusammenarbeit und die von der EU-Kommission benannten Schwerpunktregionen. 

Die aktuelle Programmgeneration eröffnet interessante Möglichkeiten zur internationalen Kooperation durch Mobilität. Der Austausch mit Partnerländern, also jenen Ländern, die kein EU-Mitglied oder nicht mit Erasmus+ assoziiert sind (Island, Liechtenstein, Nordmazedonien, Norwegen, Serbien und die Türkei), gewinnt dabei durch eine neue Option weiter an Bedeutung. Neben den seit 2015 angebotenen Hochschulprojekten zur Förderung internationaler Austausche an und von deutschen Hochschulen, für die eine komplexe Antragstellung mit qualitativer Begutachtung erforderlich ist (KA171), kann seit 2021 auch in den «klassischen» Mobilitätsprojekten (KA131) mit quantitativer Beantragung Mobilität weltweit gefördert werden – in begrenztem Umfang und sowohl für Studierende als auch für Personal; genannt haben wir diese Möglichkeit «KA131 International». 

Die Finanzierungsmechanismen

Die internationale Dimension des Erasmus+ Programms wird aus einer Mischung sogenannter interner (KA131) und externer (KA171) Finanzinstrumente der EU-Kommission gefördert. Die Leitaktion 171, deren Bandbreite an geförderten Mobilitätstypen jenem der innereuropäischen Mobilität angepasst worden ist, wird aus 2 unterschiedlichen externen Finanzinstrumenten gespeist:

  • dem Instrument for Pre-Accession Assistance (IPA III) für die Region des Westlichen Balkans. Ziel ist es, in der Region politische und ökonomische Reformen voranzubringen, um ihre Werte und Regelungen an jene der EU anzugleichen, nicht zuletzt im Hinblick auf eine Vorbereitung zum EU-Beitritt einiger Staaten.
  • dem Neighbourhood, Development and International Cooperation Instrument (NDICI). Das ist das wichtigste Finanzierungsinstrument für das auswärtige Handeln der EU, für den Zeitraum 2021–2027 mit Gesamtmitteln in Höhe von 79,5 Mrd. Euro ausgestattet.

Die verfügbaren Haushaltsmittel sind auf 12 verschiedene Regionen aufgeteilt, wobei die Höhe der einzelnen Mittelzuweisungen unterschiedlich ist. Zudem hat die EU einige Schwerpunktregionen mit einem besonders hohen Budget bedacht, namentlich den Westlichen Balkan, Subsahara-Afrika, die Östliche Nachbarschaft und die Länder des südlichen Mittelmeerraums.

Deutsche Hochschulen weiterhin sehr aktiv

Die Förderlinie der Leitaktion 171, die 2023 zum 2. Mal in dieser Programmgeneration ausgerufen worden ist, erfreut sich bei deutschen Hochschulen einer weiter steigenden Nachfrage. Wurden im Jahr 2022 114 Anträge mit einem Gesamtbudget von circa 28 Mio. Euro bewilligt, waren es 2023 bereits 127 bewilligte Anträge bei einem Etat von etwa 31 Mio. Euro. Mit über 100 Mio. beantragten Euro wurde in beiden Antragsjahren das verfügbare Budget in etwa um das Dreifache überzeichnet (siehe Grafik). Nach anfänglicher Zurückhaltung nutzen Hochschulen außerdem vermehrt die Möglichkeiten der Förderlinie «KA131 International», in der ausschließlich Outgoing-Studierende und -Hochschulpersonal für weltweite Mobilität gefördert werden können.

Von deutschen Hochschulen wissen wir, dass die weltweite Outgoing-Mobilität in den klassischen Erasmus-Projekten vielfältig eingesetzt wird. Beispielsweise wird nach dem Brexit nach einer Möglichkeit gesucht, Kooperationen mit dem Vereinigten Königreich weiterzuführen beziehungsweise am Leben zu erhalten. KA171 International eröffnet diese Option. Weiterhin nutzen einzelne Fachbereiche die Leitaktion zum Ausbau von Kooperationen mit bestimmten Ländern. So gibt es zum Beispiel Projekte zur Weinkultur in Georgien und mit Hochschulen in afrikanischen Ländern zu Infektionskrankheiten.

Nationaler Austausch und internationale Netzwerke

Auf nationaler Ebene bieten die 2 Mal jährlich stattfindenden Treffen des Arbeitskreises KA171 – zuletzt im August 2023 an der Europa-Universität Flensburg – eine gute Gelegenheit zum Austausch und Netzwerken zu den aktuellen operativen Themen in der Umsetzung der Mobilitätsprojekte mit Partnerländern. Der Arbeitskreis hat sich im Jahr 2015 zur Einführung der neuen Förderlinie KA107 gegründet und setzt sich aus den Projektkoordinatorinnen und -koordinatoren verschiedener Hochschulen zusammen. 

International hat die NA DAAD im September 2023 in Zusammenarbeit mit den Nationalen Agenturen aus Serbien, Bulgarien, Rumänien und Nordmazedonien eine Training and Cooperation Activity (TCA) mit dem Thema «A New Vision for European Cooperation» organisiert. Fokus der Veranstaltung war die Vernetzung mit den Ländern Südosteuropas und der Ausbau von Kooperationen. Dank auf Betreiben der NA erweiterter Teilnahmeregelungen haben erstmalig auch Kolleginnen und Kollegen aus Partnerländern – Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo und Montenegro – an der TCA teilgenommen. 

Die gastgebende Universität Regensburg, prädestiniert für diese Rolle durch die engen und vielseitigen Kontakte mit dem Balkan, hieß hundert Hochschulvertreterinnen und -vertreter aus Deutschland und verschiedenen Ländern des Balkans willkommen. Das Kontaktseminar hat Teilnehmenden erlaubt, Kontakte zu knüpfen, neue potenzielle Partner kennenzulernen, voneinander zu Lernen und Lösungsansätze zum Steigern der Mobilitäten zu erarbeiten. Ein gutes Beispiel für den Mehrwert von Kooperationen mit dem Balkan ist die Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft (HWG) Ludwigshafen.

Kontakt:
Michaela Lanaro
EU02 – Mobilität von Einzelpersonen

Anzahl der beantragten Projekte pro Region

Die Grafik zeigt die Anzahl der beantragten Projekte pro Region im Vergleich 2022 zu 2023 aufsteigend sortiert:  Für die Region 11 Caribbean wurden 2023 13 und 2022 8 Projekte beantragt. Ein Plus von 5 Projekten. Für die Region 7 Middle East wurden 2023 18 und 2022 15 Projekte beantragt. Ein Plus von 3 Projekten. Für die Region 8 Pacific wurden 2023 26 und 2022 19 Projekte beantragt. Ein Plus von 7 Projekten. Für die Region 12 USA & Canada wurden 2023 38 und 2022 33 Projekte beantragt. Ein Plus von 5 Projekten. Für die Region 6 Central Asia wurden 2023 37 und 2022 33 Projekte beantragt. Ein Plus von 4 Projekten. Für die Region 4 Russian Federation wurden 2023 5 und 2022 52 Projekte beantragt. Ein Minus von 47 Projekten aufgrund des Krieges in der Ukraine. Für die Region 1 Western Balkans wurden 2023 62 und 2022 59 Projekte beantragt. Ein Plus von 3 Projekten. Für die Region 10 Latin America wurden 2023 105 und 2022 85 Projekte beantragt. Ein Plus von 20 Projekten. Für die Region 2 Neighbourhood East wurden 2023 110 und 2022 104 Projekte beantragt. Ein Plus von 6 Projekten. Für die Region 3 South-Mediterranean countries wurden 2023 146 und 2022 106 Projekte beantragt. Ein Plus von 40 Projekten. Für die Region 5 Asia wurden 2023 162 und 2022 117 Projekte beantragt. Ein Plus von 45 Projekten. Für die Region 9 Sub-Saharan Africa wurden 2023 163 und 2022 153 Projekte beantragt. Ein Plus von 10 Projekten.

KA171 - Mobilities and Budget Western Balkans

Number of projects per country in Western Balkans region in 2022 and 2023

Die Grafik zeigt die Anzahl der Projekte in der Region Western Balkan nach Ländern aufgeschlüsselt im Vergleich 2023 zu 2022  In Albanien wurden 2023 18 und 2022 19 Projekte beantragt, also eins weniger. In Bosnien Herzegowina wurden 2023 10 und 2022 18 Projekte beantragt, also eins mehr. In Kosovo wurden 2023 nur 14 Projekte beantragt statt 18 in 2022, also 4 weniger. In Montenegro wurden 2023 und 2022 jeweils 7 Projekte beantrag. Insgesamt wurden in der Region 2023 58 gegenüber 62 Projekten 2022 beantragt, als etwas weniger.

Zum strategischen Nutzen von Balkan-Kooperationen

Das Beispiel der HWG Ludwigshafen

Internationalisierung ist für eine innovative, zukunftsorientierte Hochschule unerlässlich, hat sie doch den Bildungsauftrag, junge Menschen auf einen globalisierten Arbeitsmarkt vorzubereiten und ihnen für einen erfolgreichen Berufseinstieg die erforderlichen Kompetenzen mitzugeben. Der klare Fächerfokus der HWG Ludwigshafen in Business- und Gesundheitsstudiengängen wäre ohne internationale Komponenten – nicht zuletzt der Zusammenarbeit mit dem Balkan – gar nicht zeitgemäß. 

Ein zunehmender Fokus auf den Balkan

Bereits im Zuge der EU-Erweiterung 2004 gab die Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen in engem Dialog mit den im Rhein-Neckar-Raum ansässigen großen und mittelständischen Unternehmen den Blick nach Osten vor. Die zahlreichen Hochschulkooperationen in Südosteuropa waren die Folge durchgängig positiver und verlässlicher Zusammenarbeit, eines erfolgreichen Austauschs auf wissenschaftlicher und studentischer Ebene und der Nachfrage von kooperierenden Unternehmen nach Absolvent*innen mit Ost- und Südosteuropa-Kompetenzen. 

Die 2015 – in der vorangegangenen Programmgeneration von Erasmus+ (2014–2020) – eingeführte Programmlinie KA107 («Mobilität mit Partnerländern», bekannt auch als International Credit Mobility, ICM) schaffte die Option, nun auch die Nicht-EU-Länder des Westlichen Balkans in das Programm zu integrieren, Mobilitäten zu fördern, bestehende Kooperationen zu intensivieren und neue Partner zu gewinnen. Ohne die Förderung durch Erasmus+ wäre für die meisten der Studierenden aus der Region des Westlichen Balkans ein Studienaufenthalt in Deutschland nicht finanzierbar (gewesen).

Eine vertiefte Zusammenarbeit dank Erasmus+

Für die HWG Ludwigshafen erwies sich diese Ausweitung des Erasmus+ Programms als wahrer Glücksfall, war doch schon in den frühen 2000er-Jahren die Region als wichtige Destination identifiziert worden, für beide Seiten gewinnbringend und zukunftsorientiert. Nach den vorhergehenden konfliktreichen Jahren, die auch viele Geflüchtete in die Rhein-Neckar-Region gespült hatten, war es naheliegend, basierend auf intensiver historischer Verbundenheit und deutlichen fachlichen Schnittstellen ein dichtes Netzwerk bilateraler Kooperationen und vielseitige gemeinsame Aktivitäten zu entwickeln. Die geografische Nähe machte und macht eine Vielzahl von Mobilitäten möglich, die Vertrautheit schaffen und eine gemeinsame Blickrichtung bestärken.

Unterfüttert werden die Hochschulkooperationen durch die Zusammenarbeit der HWG Ludwigshafen mit den Niederlassungen der GIZ in Sarajevo, Pristina und Podgorica sowie der Deutschen Industrie- und Handelsvereinigung in Albanien. Ziel ist die Erhöhung der Mobilitäten für Praktika in Unternehmen, Einrichtungen und NGOs für Studierende der HWG in den wirtschafts- und gesundheitswissenschaftlichen Fächern. Im Gegenzug können auch Studierende der Partnerhochschulen des Westlichen Balkans von der weitreichenden Vernetzung der HWG Ludwigshafen mit Unternehmen der Region bei der Suche nach Praktika oder Arbeitsstellen profitieren. 

Austausch auf allen Ebenen

Viele ehemalige Austauschstudierende hatten bereits mit einem Semesteraufenthalt an der HWG Ludwigshafen und den erworbenen Grundkenntnissen der deutschen Sprache in den Herkunftsländern verbesserte Startchancen für den Berufseinstieg. Eine hohe Anzahl Studierender aus den Ländern des Westlichen Balkans kam nach ihrem Abschluss zurück an die HWG Ludwigshafen, um ein Masterstudium zu beginnen. Mit der European University in Tirana (Albanien), der International University Sarajevo (Bosnien und Herzegowina) und dem Universum College in Pristina (Kosovo) wurden erfolgreiche Double-Degrees auf Masterebene etabliert, die die Chancen der Absolvent*innen auf einen Arbeitsplatz sowohl im Herkunftsland als auch in Deutschland erhöhen, zumal die Zahl deutscher Unternehmen und Einrichtungen in der Region des Westlichen Balkans ständig wächst. 

Seit 2018 lehrt zudem eine Professorin für Finanzwissenschaft von der Freien Universität Banja Luka (Bosnien und Herzegowina) jedes Semester als Gastdozentin an der HWG; zur im Oktober 2023 durchgeführten Graduierungsfeier des MBAs «International Business Management» an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft kamen 3 Professoren des Universum College Pristina (Kosovo), um den Doppelabschluss der Studierenden zu würdigen. Für die nächste Zukunft sind neben den klassischen Studierenden-, Lehrenden- und Personalmobilitäten ein Partnernetzwerktreffen an der HWG Ludwigshafen sowie eine mehrtägige Exkursion mit Studierenden nach Sarajevo und Tirana geplant.

Ein Plädoyer für den Balkan

Die Beitrittsverhandlungen mit der EU und die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft haben sich als wichtiger Motor für Reformprozesse erwiesen, die sich auch in bildungspolitischen Entwicklungen widerspiegeln. Die vor allem in westeuropäischen Köpfen noch immer sehr präsenten Vorbehalte gegenüber den Balkanländern und die bestehenden Zweifel an der Qualität der dortigen Bildungssysteme können nur durch permanenten Austausch und sichtbare Zusammenarbeit entkräftet werden und diese unterschätzte, vielseitige, gehaltvolle und kulturell schillernde Region innerhalb Europas sichtbarer machen. Europa endet nicht am Rand der Europäischen Union.

Kerstin Gallenstein

Porträtfoto Kerstin Gallenstein
© privat

Kerstin Gallenstein ist Leiterin des Bereichs «Internationale Angelegenheiten» der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen

 

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Ein zunehmender Fokus auf den Balkan

Bereits im Zuge der EU-Erweiterung 2004 gab die Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen in engem Dialog mit den im Rhein-Neckar-Raum ansässigen großen und mittelständischen Unternehmen den Blick nach Osten vor. Die zahlreichen Hochschulkooperationen in Südosteuropa waren die Folge durchgängig positiver und verlässlicher Zusammenarbeit, eines erfolgreichen Austauschs auf wissenschaftlicher und studentischer Ebene und der Nachfrage von kooperierenden Unternehmen nach Absolvent*innen mit Ost- und Südosteuropa-Kompetenzen. 

Die 2015 – in der vorangegangenen Programmgeneration von Erasmus+ (2014–2020) – eingeführte Programmlinie KA107 («Mobilität mit Partnerländern», bekannt auch als International Credit Mobility, ICM) schaffte die Option, nun auch die Nicht-EU-Länder des Westlichen Balkans in das Programm zu integrieren, Mobilitäten zu fördern, bestehende Kooperationen zu intensivieren und neue Partner zu gewinnen. Ohne die Förderung durch Erasmus+ wäre für die meisten der Studierenden aus der Region des Westlichen Balkans ein Studienaufenthalt in Deutschland nicht finanzierbar (gewesen).

Luftbild vom Campus der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen mit Rhein im Hintergrund
© Melcher/Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen

An der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen waren im Wintersemester 2022/2023 rund 4.400 Studierende eingeschrieben. Von den Studierenden insgesamt waren 51,9 Prozent Frauen und 12,1 Prozent internationaler Herkunft aus 76 verschiedenen Nationen.

Michaela Lanaro, NA DAAD EU02 – Mobilität von Einzelpersonen